Predigt am 1. Advent 2022 Matthäusevangelium 21,1-11
Von Pastor Gerd Peter
Die Bank vor dem Haus (Anselm Grün)
Wer sich bewusst die Zeit nimmt, einfach nur da zu sein, der wird erfahren, wie viel Zeit er gewinnt. Die Zeit gehört ihm. Früher gehörte zu jedem Bauernhof eine Bank vor dem Haus. Da saßen oft die Großeltern und schauten einfach zu. Oder sie saßen am Abend auf dieser Bank und nahmen einfach nur wahr, wie der Tag sich neigte, wie alles still wurde. Sie taten nichts. Aber es ging von ihrem Dasein ein großer Friede aus. Man spürte, wie sie die Zeit genießen konnten. Sie arbeiteten viel. Aber sie hatten auch die Fähigkeit, einfach nur da zu sein. Die Zeit hat für sie eine andere Qualität bekommen. Sie war kein Tyrann mehr, sondern eine Einladung zur Dankbarkeit, eine Einladung zum reinen Dasein. Solche Augenblicke, in denen ich absichtslos einfach nur da sitze und den Gedanken nachhänge, sind oft sehr fruchtbare Momente. Da kommen mir neue Ideen. Wenn ich ein Problem in solches "Nichts-Tun" mitnehme, dann löst es sich. Es relativiert sich zumindest. Und oft genug finde ich gerade in solchen Augenblicken eine Lösung, auf die ich durch angestrengtes Nachdenken nicht gekommen bin.
Matthäusevangelium 21,1-11
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa.
Predigt
Nun hat sie wieder begonnen, die Adventszeit. Keine andere Zeit im Jahr ist so verknüpft mit Bräuchen, Erinnerungen und Erwartungen. Aber sie ist auch eine widersprüchliche Zeit. Auf der einen Seite sollen Besinnlichkeit und Ruhe diese Zeit bestimmen. Auf der anderen Seite ist sie im Handel die umsatzstärkste und im Kulturbetrieb die veranstaltungsreichste Zeit im Jahr. Zu keiner anderen Jahreszeit werden so viele Grußkarten und Geschenke verteilt. Vereine, Institutionen, Einrichtungen – alle laden sie in diesen Wochen zum gemütlichen und geselligen Miteinander ein. Auch aus diesem Grund empfinden manche sie als die stressigste Zeit im Jahr.
Und dann ist die Adventszeit ja auch die Vorbereitungszeit auf das große Fest, das Weihnachtsfest. Einladungen werden ausgesprochen, Speisepläne erstellt, Häuser geputzt, Wohnungen geschmückt, Einkäufe erledigt, Geschenke besorgt, Tannenbäume gekauft und auch der eine oder andere Besuch auf einem Weihnachtsmarkt gehört dazu.
Alles hat sein gutes Recht zu sein! Nichts von dem genannten ist an sich schlecht! Dennoch steht dieses besinnungslose Treiben der Adventszeit in großer Spannung zum besinnlichen Innehalten und zur Besinnung auf den eigentlich biblisch-christlichen Kern dieser besonderen Zeit.
Das große Thema der Adventszeit ist das Warten, die Erwartung – und zwar das Warten auf etwas großartiges, die Erwartung von etwas wunderbarem, das Warten auf und die Erwartung von Gottes Ankunft und Gegenwart.
Warten fällt mir nicht leicht. Als Kind konnte Weihnachten nie schnell genug kommen. Und bis heute sind Warteschlangen, rote Ampeln und verspätete Züge mir ein Graus. Ich mag es einfach nicht, darauf warten zu müssen, dass das Ziel erreicht wird.
Viel schöner empfinde ich das Leben in Erwartung. Wir freuen uns schon lange drauf, mit den Kindern und Enkeln bald wieder zusammenzukommen. In der Erwartung steckt Energie, Kraft, Vorfreude und Hoffnung.
Zu Beginn haben wir die Gedanken von Anselm Grün zur Bank vor dem Haus gehört. Es sind Gedanken, die zur Pause einladen, zu Momenten des „einfach-nur-da-sein“. Warum nur fällt es mir und vielen anderen so schwer, dieser Einladung zu folgen. Ob es die Angst ist, etwas zu verpassen?
Ursprünglich war die Adventszeit als eine Zeit der Buße, des Fastens und der selbstkritischen Einkehr gestaltet. Das kommt im Gottesdienst auch in der violetten Farbe der Stola und des Altartuchs zum Ausdruck. Hintergrund dieses Konzeptes ist die Überlegung: Wenn wir an Weihnachten die Ankunft des göttlichen Retters feiern, dem es zu begegnen gilt, dann tun wir gut daran, uns auf diese Begegnung mit Gott vorzubereiten, damit sie uns auch bewusst ist. Begegnung mit Gott ist nichts banales oder alltägliches, wiewohl sie gerade im Alltag geschieht. Die Begegnung mit Gott – zumal, wo sie bewusst wahrgenommen wird – kann erschrecken, sie kann aus der Bahn werfen, sie kann Lebenswege grundlegend verändern. Sie kann aber auch unendlich froh machen, Halt geben und ungeahnte Kräfte frei setzen. Begegnung mit Gott kann beides auslösen – tiefe Verunsicherung und Infragestellung meines Lebenskonzepts oder auch tröstliche Bestätigung und Bekräftigung. Begegnung mit dem lebendigen Gott kann mich aller vermeintlichen Sicherheiten berauben. Sie kann mir aber auch ungeahnte Sicherheit schenken.
Wie die Adventszeit bringt auch die Erzählung vom Einzug Jesu nach Jerusalem, vom Ritt auf dem Esel, die eingangs beschriebene Spannung zum Ausdruck. Zum einen ist da die lautstarke und begeisterte Menschenmenge, die regelrechte Volksfeststimmung verbreitet. Das Bild Fahnen schwenkender und jubelnder Fans steht mir dabei vor Augen. Zum anderen entsteht vor meinem inneren Auge aber auch das Bild von skeptischen, fragenden Menschen, die sehnsuchtsvoll darauf warten, dass das Recht zu seinem Recht kommt, dass die Güter gerecht geteilt werden und die Kunstgriffe der politischen Rhetorik endgültig als Lüge überführt werden. Suchend fragen sie: Wer ist der, der da auf diese Weise in die Stadt einzieht. Ist er es, nach dem wir uns sehnen und auf den sich unsere Hoffnungen richten? Begegnet uns Gott in diesem Jesus?
Wenn wir heute diese Geschichte hören, wohl wissend, dass viele von denen, die Jesus lauthals bejubeln, ihn wenig später ebenso laut mit „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ ans Messer liefern, dann stellt sich uns die Frage: „Wer bin ich? Wie begegne ich diesem Jesus? Wie verhalte ich mich zu ihm?“ Oder wie Paul Gerhard gedichtet hat: „Wie soll ich dich empfangen, und wie begegne ich dir?“ Jeder mag die Adventszeit nutzen, um seine persönliche Antwort auf diese Frage zu finden und zu geben.
Dazu noch ein Gedanke, der sich aus den biblischen Texten und den Liedern zur Adventszeit ergibt: Eine besinnliche Adventszeit bedeutet nicht Gefühlsduselei. Ganz im Gegenteil. Wer sich darauf besinnt, dass Gott zu uns kommt, um Recht, Gerechtigkeit, Heil und Frieden zu bringen, der wird sich nur schwer den widersprüchlichen Tatsachen des real existierenden Alltags entziehen können. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“ haben wir zu Beginn des Gottesdienstes gesungen. Stellen Sie sich vor: Alle, wirklich alle, die in dieser Adventszeit in dieses Lied einstimmen, lassen den Worten Taten folgen und bauen politischen Druck auf, damit nicht einer von den Migranten und Migrantinnen, die auf hoher See oder vor gesicherten Grenzen auf Einlass und Asyl warten, vor abgeriegelten Häfen und verrammelten Barrikaden steht? Stellen Sie sich vor: Bei jedem Migranten und jeder Migrantin fragen wir wie im Evangelium: „Wer ist der/die?“ Und wir bekommen zur Antwort. „In diesem Menschen begegnet dir Gott.“